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„Ideieren“. Zur Dialektik von Geist und Leben bei Max Scheler

4. März 2016 von Jörg Noller

Vortrag am 10.Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie, Innsbruck.http://www.uibk.ac.at/ipoint/blog/1326563.html

Max Scheler hat in seiner 1928 erschienenen Schrift über „Die Stellung des Menschenim Kosmos“ ein Stufenschema psychischer Kräfte entwickelt, welches der Reihe nachden Gefühlsdrang, den Instinkt, das assoziative Gedächtnis und die organisch gebundenepraktische Intelligenz umfasst. Der Mensch als Mensch darf nach Scheler nicht der viertenStufe – der organisch gebundenen praktischen Intelligenz – zugeordnet werden, da aufdieser auch intelligente Tiere wie höhere Primaten anzusiedeln sind und der Mensch sichso nur quantitativ vom Tier unterscheiden würde. Dagegen möchte Scheler eine qualitative Differenz zwischen Mensch und Tier denken. Diese Differenz analysiert Scheler durchseinen kritischen Begriff des Geistes weiter. Der Bereich des Geistes ist ausdrücklich nichtGegenstand der Naturwissenschaften. Wie aber kann ein solcher nicht-reduktiver Begriffdes Geistes positiv weiter bestimmt werden, ohne damit den Bezug zur Natur des Menschen zu verlieren? Ich werde dafür argumentieren, dass sich Schelers Begriff des Geistesals ein Versuch interpretieren lässt, Freiheit und Natur im Menschen kompatibilistisch,d.h. produktiv zusammenzudenken. Die konkrete Wirklichkeit des Geistes besteht nachScheler in seiner spezifischen Operationsweise und Tätigkeit, die er als „Akt der Ideierung“bestimmt. Scheler verdeutlicht diesen Akt am Beispiel des Schmerzes. Die positiven Naturwissenschaften können den Schmerz erklären, indem sie ihn auf natürliche Ursachenzurückführen. Durch eine geistige Betrachtung des Schmerzes wird hingegen nicht nacheiner dahinterliegenden natürlichen Ursache gefragt (also etwa das Feuern von Neuronen), sondern vielmehr die Frage nach seinem Wesen gestellt. Die Reflexionsbewegungist also dabei nicht die einer Reduktion, sondern die einer Transzendenz des konkreten Schmerzes hin zu seiner holistischen Verortung in der Welt als ganzen. Die für denMenschen spezifische geistige Frage lautet nach Scheler also nicht: „Was ist die Ursachevon Schmerz allgemein?“, sondern zielt vielmehr auf Erstes und Letztes: „Warum gibtes überhaupt Schmerz in der Welt?“. Indem eine solche radikale Frage gestellt wird, diean die allerersten Wurzeln des Schmerzes an sich rührt, und nicht mehr den Schmerz alsnatural erfahrbares und wirksames Phänomen betrifft, kann Scheler sagen, dass im Ideieren die „Aufhebung des Wirklichkeitscharakters der Dinge, der Welt“ besteht, indemder Wirklichkeit ein „kräftiges ‚Nein‘“ ‚entgegengeschleudert‘ wird. Durch die dadurchgewonnene negative Freiheit von der Natur unterscheidet sich der Mensch gerade vomTier, welches selbst auf Basis seiner organisch gebundenen praktischen Intelligenz „immer‚Ja‘ zum Wirklichen sagt“. Trotz seiner negativen Freiheit von der Natur ist der Menschqua Geist nicht gänzlich der Natur entbunden – er ‚schwebt‘ nicht über der Natur. Vielmehr erhält er seine positive Freiheit erst im Verbund mit der Natur. Der „Grundirrtum“ der klassischen Theorien des Geistes besteht nach Scheler denn auch darin, dass sie denGeist kräftemäßig als autark und als der Natur überlegen verstehen. Nun ist im Geistigendas Verhältnis zur eigenen Natur jedoch nicht das einer Unterdrückung, sondern geradedasjenige einer Umlenkung oder Transformation. Scheler beschreibt diese Ausnutzung desnaturalen Triebpotenzials als Tätigkeit der Sublimierung. Diese Sublimierung oder Vergeistigung lässt sich als eine Reflexion und kontrollierte Kultivierung der eigenen Naturverstehen, in welcher Geist und Natur dialektisch miteinander verwoben sind: „[D]erGeist ideiert das Leben – den Geist aber von seiner einfachsten Aktregung an bis zurLeistung eines Werkes, dem wir geistigen Sinngehalt zuschreiben, in Tätigkeit zu setzenund zu verwirklichen vermag das Leben allein.“

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