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Von jeder Ansteckung befreit und bis zur Identifikation „verseucht“ – Décréation bei Simone Weil

30. November 2015 von Thomas Sojer

Vortrag am 10.Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie, Innsbruck 2015. http://www.uibk.ac.at/ipoint/blog/1326563.html

Die Lebensgeschichte der jüdischen Philosophin Simone Adolphine Weil (1909–1943)stellt uns eine an die Grenzen des Menschlichen rührende Radikalität vor Augen. Als Kommunistin, Freiheitskämpferin, Schriftstellerin und Mystikerin erfährt sie sich getrieben von einer exzessiven Solidarität zu jenen Menschen, die unschuldig zu Opfern werden. Weil wählt das eigene Opfer um diesen Lebensschicksalen jenen, ihnen abgesprochen Wert zurück zu geben. Der Opferbegriff, der vom Katholizismus überzeugten Mystikerin, zwingt sie, einer Mitgliedschaft in der katholischen Kirche zu entraten und lässt sie in totaler Solidarität mit Kriegsgefangenen im Alter von nur 34 Jahren den Hungertod sterben. Weils Leben pendelt zwischen Masochismus und Solidarität, Hingabe und Selbstmord. All ihre Lebensentscheidungen sind unmittelbare Konsequenz ihrer eigenenPhilosophie. Die originäre Erschaffung der Welt aus dem Nichts ist für Simone Weil kein Akt göttlicher Allmacht, sondern der ganzheitliche Verzicht Gottes auf jedes Gottsein. In dieser infiniten Distanz zwischen Schöpfer und Schöpfung ist der Mensch unerbittlich dem Notwendigen unterworfen. Solcher Verlust innerweltlicher Letztbegründunger heischt die Inversion von Mittel und Zweck und wird so zum Ursprung von Leid und Unglück, die den Menschen entwurzeln. Die menschliche Ursehnsucht nach dem Vollkommenen verkommt im Fehlen des absoluten Guten zur gegenseitigen Ansteckung imÜbel. Allein die Annahme des Notwendigen im Selbstverzicht ist fähig, diesen ontologischen Graben zwischen Schöpfer und Schöpfung zu überwinden. Im Wirklichkeitsgehorsam geschieht eine Öffnung auf die übernatürliche Liebe hin, zu welcher der Menschaus sich selbst heraus nicht fähig ist. Bereits in ihrer Examensarbeit Science et perception dans Descartes (1930) weist Simone Weil dem Notwendigen eine genuine Mittlerrollezu: Die menschliche Fähigkeit zur Einwilligung in das Notwendige wird zum epistemischen Schlüssel, die eigene Existenz mit der Wirklichkeit in Beziehung setzen zu können.Dies verpflichtet ihn zur vollständigen Akzeptanz des Übels in sich selbst und in seinenGemeinschaften und untersagt ihm gleichzeitig, der Versuchung jenes Götzendiensteszu unterliegen, das Notwendige zur Letztbegründung zu erheben. Der Mensch muss in sich zwei diametral entgegengesetzte Seelenteile zulassen: Einerseits jenen, der von der Ansteckung durch das Übel befreit bleibt, andererseits den, der bis zur Identifizierung mitden Leidenden „verseucht“ ist. Erst diese Zerrissenheit schafft wirkliches Mitleid. DieserVortrag möchte dieses Paradoxon, wie Selbstverzicht nichts auslöscht, sondern alles gibt,in Simone Weils philosophischer Argumentation aufschlüsseln und eine Anthropologieder Einwurzelung vorstellen. Die Einwurzelung der entwurzelten Menschheit gelingt allein in einer décréation, dem Ent-Schaffen, ohne das der Mensch ewig von seinem Unglück geknechtet bleibt. Ein Blick auf Weils philosophische Genese von Platon, überDescartes zu Kant zeigt, dass sich hinter dieser scheinbar unmenschlichen Radikalität einMenschenbild verbirgt, das allein auf Leben und Liebe zielt und konkrete Solidarität imsozio-politischen Kontext einfordert.

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