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Versuch einer Anthropologie des Fremden

22. November 2015 von Maximilian Gregor Hepach

Vortrag am 10.Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie, Innsbruck 2015. http://www.uibk.ac.at/ipoint/blog/1326563.html

Die Frage, was es heute heißen kann Mensch zu sein, kann nur in Bezug auf die Schwelle beantwortet werden, die der Mensch mit Anbruch der Moderne überschritten hat.Ohne diese Schwelle genau definieren zu können zeichnen sich deren Folgen sowohl imAlltagsleben als auch in der Philosophie der Moderne ab. Jene Folgen lassen sich vorläufig sehr allgemein als Sinnverlust beschreiben. Unter den vielen PhilosophInnen des20. Jahrhunderts hat exemplarisch Martin Heidegger gezeigt, dass dort, wo sinnhaftesVerstehen scheitert, Angst einsetzt. In Sein und Zeit geht folglich unser gesamtes Daseinauf in einem Verfallen an die Welt, oder modern gesprochen: in einem Verfallen an Sinnals Antwort auf den verängstigten menschlichen Grundzustand der Sinnlosigkeit. (Heidegger 1949, §38-44) Heidegger bezeichnet jenen Grundzustand später bekanntermaßenals Heimatlosigkeit. (Heidegger 1976, 338ff) Was dem Menschen verloren gegangen zu sein scheint ist also nicht ein Wissen um sich selbst, sondern der Grund, von dem aus derMensch sich selbst zu verstehen beginnt, seine ‚Heimat‘. Die Frage, wer der Mensch ist,zeigt sich nun deutlicher als die Frage, woher sich der Mensch versteht. Diese grundlegende Erschütterung unseres Selbstverständnisses zieht im Folgenden weite Kreise, die schonimmer den Bereich des bloßen Philosophierens verlassen. Ein Phänomen par excellencedieser Erschütterung in unserer Lebenswelt scheint die Somatisierung des Sinnverlusts inDiagnosen wie ‚Angststörung‘ oder ‚Depression‘ zu sein, die in den letzten Jahrzehntenrapide zugenommen haben. Doch es kann nicht an dem faktischen Leid des modernenMenschen gezweifelt werden. Vielmehr verschwimmt in der Frage nach unserer Heimatlosigkeit die Grenze zwischen philosophischem Zweifel und Lebenspraxis. Ob sichdie Frage nach dem ‚Wesen des Menschen‘ je bloß philosophisch beantworten lässt, kannan dieser Stelle nicht beantwortet werden. Im Folgenden sollen hingegen aus der philosophischen Tradition des 20. Jahrhunderts Antworten auf die zunächst diagnostizierteBodenlosigkeit unserer Existenz geborgen werden. Auf dem Weg zu solchen Antwortenverhilft uns zunächst Günther Anders, der in dem Gefühl der Sinnlosigkeit des Lebenskein pathologisches Symptom, sondern vielmehr ein „völlig berechtigtes Gefühl, einZeichen von unbeschädigter Wahrheitsbereitschaft [...]: ein Symptom von Gesundheit“(AdM2, 369f ) (Anders 2013) sieht. Die zumeist negativen Zeitdiagnosen von GüntherAnders erlauben uns die Frage nach dem Sinn des menschlichen Seins erneut zu stellen,jedoch diesmal nicht als Rettungsversuch, sondern als Infragestellung des Sinns überhaupt. So verlagert sich die Frage, woher sich der Mensch versteht, in eben jene Bereiche,die sich unserem sinnvollen Verstehen wesensgemäß entziehen. Auf zwei Denkwegenwollen wir in jene Bereiche vorzudringen versuchen: Watsuji Tetsuro stellt in seinemFrühwerk die anthropozentrische Methode Heideggers in Frage, in dem er uns auf unsereVorannahme aufmerksam macht, dass nur der Mensch verstehen soll oder kann. (Watsuji1997) Die Auflösung der Beziehung zwischen Verstehendem und Verstandenem erlaubtdie Erschließung eines Feldes, das ungeahnte Antworten auf die Frage unseres Wohersbirgt. In der europäischen Tradition können wir auf die Phänomenologie des Fremden vonBernhard Waldenfels zurückgreifen, in der sich zeigt, dass dasjenige, was uns am meistenauszeichnet, gerade unser Bezug zum Sinnlosen und Fremden ist. (Waldenfels 2006) Sosoll schließlich die Frage, wer der Mensch ist, nicht positiv, sondern wie folgt beantwortetwerden: Der Mensch ist durch das, was er nie sein kann.

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