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Der Weg des Menschen zum Maß aller Dinge. Zur Entstehung der Sophistik aus dem Geiste der Naturphilosophie

15. Dezember 2015 von Viktoria Bachmann

Vortrag am 10.Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie, Innsbruck 2015. http://www.uibk.ac.at/ipoint/blog/1326563.html

Einer der bekanntesten und ältesten Aussprüche über den Menschen ist der Satz desSophisten Protagoras: „Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, dass (wie) sie sind,der nicht seienden, dass (wie) sie nicht sind.“ Allerdings ist es aufgrund der fragmentarischen Überlieferung hoch umstritten, wie diese Bestimmung des Menschen zu verstehenist. Trotzdem oder vielleicht auch deswegen fasziniert und provoziert er Menschen weitüber die spezialisierte Forschung hinaus. Es scheint dem gegenwärtigen Denken aus derSeele zu sprechen. Denn in einer demokratischen Gesellschaft wird der Mensch – alsEinzelner oder als Gattung – in vielen Lebensbereichen zum Maß erhoben. Vor einervoreiligen Anknüpfung sollte aber verstanden werden, was es heißt, ein Maß für etwas zusein, und wie der Mensch in diese Position gelangt. Da die Texte des Protagoras selbst bisauf wenige Sätze verloren sind, kann die Bedeutung seiner These nicht werkimmanenterschlossen werden. Allerdings kann eine Rekonstruktion der Fragestellungen und Probleme in der zeitgenössischen Diskussion über das Sein/die Natur und den Menschen, aufdie Protagoras reagiert, zum Verständnis der These beitragen. Dieser Übergang und dieAblösung des Denkens vom Sein her (Naturphilosophie) zu einem Denken vom Menschen her (Sophistik) sollen Gegenstand des Vortrags sein und eine kritische Betrachtungmöglicher Aktualisierungen vorbereiten. Protagoras reagiert als einer der ersten Sophistenauf die Seinslehren der vorsokratischen Naturphilosophen. Im Zentrum ihres Nachdenkens stehen allgemeine Prinzipien des Seins (Feuer, Luft, Blut u.ä.), deren Kombinationalles einzelne Seiende erklären soll. Der Mensch wird in diesem Denken vom Sein herbestimmt und ist ihm gegenüber scheinbar ohnmächtig. Trotzdem nimmt der Menschinnerhalb der Naturphilosophie eine durchaus ambivalente Stellung ein. Einerseits ist ernur ein Phänomen unter vielen, andererseits aber muss das gesamte Sein so gestaltet sein,dass darin das menschliche Denken, das über das Sein reflektiert, möglich ist. Bei einersolchen Sicht auf die Naturphilosophie stellt die epistemologische Revolution der vomMenschen her denkenden Sophistik zugleich eine Explikation der selbstverkennendennaturphilosophischen Haltung dar. Die Sophistik wendet sich also dem Menschen zuund befreit ihn von der scheinbar mechanistischen Bestimmung durch ein Seinsprinzip.Diese Perspektivverschiebung findet im Satz des Protagoras ihren prägnantesten Ausdruck und löst eine rege und fruchtbare Diskussion aus. Denn die neue Freiheit birgteinige epistemische, ethische und politische Schwierigkeiten. Denn, wenn jeder das Maßaller Dinge ist, gibt es dann noch eine gemeinsame Wirklichkeit (Welt), über die wirsprechen und die wir erkennen können? Oder: wenn jeder das Maß seiner Wirklichkeit ist, gibt es dann noch ethische Verbindlichkeiten, die wir gegenüber anderen Menschenhaben? Und weiter: wenn jeder ein gleichberechtigtes Maß über gut und schlecht, gerechtund ungerecht ist, nach welchem Prinzip gestalten wir das gesellschaftliche Zusammenleben? Insgesamt: Was bedeutet es theoretisch für unser Selbstverständnis und praktischfür unsere Lebensführung, wenn wir für uns selbst und für alles andere das Maß sind?Anhand dieser und ähnlicher Fragen soll die emphatische Erhebung des Menschen zumFundament wissenschaftlichen Denkens, wie sie von manchen Anthropologen erstrebtwird, im Vortrag kritisch ausgeleuchtet und diskutiert werden.

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