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Consumo ergo sum! Die Bedeutung der Oralität für Internalisierungen und Identität

18. Juli 2016 von andrea

Bodo Kirchner

Consumo ergo sum !Die Bedeutung der Oralität für Internalisierungen und Identität - eine entwicklungspsychologische und kulturkritische Perspektive

Die Bedeutung der Oralität für Internalisierungen und Identität - eine entwicklungspsychologische und kulturkritische Perspektive Internalisierungsvorgänge erlauben in der kindlichen Entwicklung Introjektion, Identifikation und selektive Verinnerlichung von Erfahrungen, sensomotorischen Mustern, Affekten und Objektbeziehungen. Psychosexuelle Entwicklung, Bindungs- und Mentalisierungsprozesse gehen dabei mit Nahrungsaufnahme, Fürsorge und impliziten Beziehungserfahrungen einher, rätselhafte Botschaften der Eltern verbinden Erfahrungen mit Phantasien. Aus der äußeren Welt entsteht ein innerseelischer Raum, der sich mit Bildern und Worten, Handlungen und Affekten, Berührungen und Bewegungen, Begehren, Befriedigungen und Versagungen füllt.

Indem Äußeres Teil des Inneren wird, entstehen analog zu biologischen Metabolisierungs- und Wachstumsvorgängen psychische Strukturen, Instanzen und Verbindungen. Oralitätbezeichnet dabei ein über die Mundschleimhaut weit hinausreichendes Gebiet des Übergangs von Innen und Außen; Begrenzung, Aufnahme und Austausch finden auch über die Haut, den Blick, die Stimme und das Gehör statt. Indem das Kind (mit der Mutter) con-sumiert, verinnerlicht es Fremdes und erzeugt daraus Eigenes, welches die körperliche, seelische und soziale Identität konstituiert.

Diese psycho-sozio-somatische Identität bleibt über weitere Metabolisierungsprozesse im Laufe des Lebens konstant und veränderlich zugleich, kann in Entwicklungskrisen entscheidende Modifikationen erfahren und begründet (über die lebenslange Persistenz des oralen Modus der Bedürfnisbefriedigung) den notwendigen Kon-sum weiterer Bilder, Gedanken, Begegnungen und Erfahrungen. Identität entsteht dabei in einem dynamischen Gleichgewicht von Internalisierungs- und Externalisierungsprozessen, welche in Progression und Regression Innenwelt und Außenwelt sowohl integrierend als auch konfligierend verbinden. Nicht das cogito, sondern das con-sumo begründet somit primär das Sein - und damit die seelisch-leibliche und soziale Sicherheit.

Das innerseelische Gleichgewicht wird jedoch in neurotischen, psychotischen oder psychosomatischen Störungen bedroht, oder ist durch Identitätsdiffusion, bzw. -unsicherheit, wie z.B. bei narzisstischen Störungen dauerhaft instabil. Oft versuchen Patienten in einem Selbstheilungsversuch, durch regressiv-oralen Konsum - von Substanzen, Medikamenten, Beziehungserfahrungen, belebenden oder unbelebten Objekten - ihre Identität und Stabilität wieder zurück zu gewinnen. Aus psychoanalytischer Perspektive ist daher die Bedeutung von Selbstwertstabilisierung und Identitätsprothetik durch Konsum kulturkritisch zu hinterfragen.

Eine überarbeitete Fassung dieses Vortrags findet sich in Elisabeth Skale, Sabine Schlüter, Ulrike Kadi (Hg.): Lust. Verschlingen. Alles Sigmund-Freud-Vorlesungen 2015. Wien: Mandelbaumverlag 2016.

Die Sigmund Freud Vorlesungen sind eine Veranstaltung der Wiener Psychoanalytischen Akademie.

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