Zwischen Gesellschaft und Leben. Die „Weltstellung des Menschen“ in Georg Simmels Kulturphilosophie

Die Philosophische Audiothek
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Zwischen Gesellschaft und Leben. Die „Weltstellung des Menschen“ in Georg Simmels Kulturphilosophie
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Vortrag am 10.Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie, Innsbruck.http://www.uibk.ac.at/ipoint/blog/1326563.html

Die Gegenwart ist durch die Dominanz der sogenannten Lebenswissenschaften gekennzeichnet. Die Ergebnisse der lebenswissenschaftlichen Forschungen prägen nicht nur dietheoretischen Diskurse, sondern deren Anwendung in Bereichen wie Medizin, Pharmakologie oder Landwirtschaft verändert unsere alltägliche Lebenswelt grundlegend. Insbesondere die Verfeinerung der technologischen Eingriffsmöglichkeiten in die biologischeMatrix des Menschen hat weitreichende anthropologische Diskussionen zur Folge. Mitder diagnostizierten „Auflösung der menschlichen Natur“ (Weiss 2009, S. 34‒54) undderen ethischen, sozialen und politischen Konsequenzen werden Hoffnungen und Befürchtungen gleichermaßen verbunden. Karin Knorr Cetina interpretiert diese umfassenden Veränderungen beispielsweise als den „Übergang von einer Kultur des Menschen zueiner Kultur des Lebens“ (Knorr-Cetina 2009, S. 56). Mit der „Idee des Menschen“ als„Grundlage eines wesentlichen Teils unserer Kultur“ gehen ihrer Ansicht nach auch der„Glaube an die Gesellschaft als Heilsbringerin“ (Knorr-Cetina 2009, S. 55) und sozialeIdeale wie Gleichheit oder Gerechtigkeit verloren. Knorr Cetina betrachtet dieses „Verschwinden des Sozialen“ (Knorr-Cetina 2009, S. 59) aus Politik, Theorie und Utopiedezidiert kritisch. Denn – zugespitzt formuliert – für sie steht das Menschsein selbst inFrage: Indem sich der Mensch nicht mehr zuvörderst als soziales Wesen, sondern nurnoch als „Lebewesen unter Lebewesen“ (Knorr-Cetina 2009, S. 62) begreift, beraubeer sich seiner Eigenart und der damit verbundenden Potentiale. Vor dem Hintergrundsolcher Deutungen der gegenwärtigen lebenswissenschaftlichen Konstellation und derenhistorischen sowie systematischen Voraussetzungen lohnt sich ein Blick auf einen vernachlässigten Teil der Philosophiegeschichte. Denn die Jahrhundertwende bildet – wiePetra Gehring nachdrücklich betont – nicht nur einen „Einschnitt in der Geschichte des‚Lebens‘“, indem ein „neuer ontologisch umfassender Lebensbegriff“ (Gehring 2009, S.118) entwickelt wird, der noch für unsere Gegenwart paradigmatisch ist. Vielmehr erleben um 1900 auch die Sozialwissenschaften einen signifikanten Aufschwung. Beide Entwicklungen verdichten sich in Georg Simmels Kulturphilosophie, in welcher das menschliche Verhältnis zur Welt sowohl unter soziologischer als auch unter lebensphilosophischerPerspektive analysiert wird. Deshalb will ich mich in meinem Vortrag ausgehend von dergegenwärtigen lebenswissenschaftlichen Konstellation und deren Deutungen sowohl derSoziologie als auch der Lebensphilosophie Simmels zuwenden. Dabei steht die Frage imZentrum, auf welche Weise das Menschsein unter diesen unterschiedlichen Perspektivenbestimmt wird: Welche Begriffe des Menschen zeichnen sich in Simmels soziologischen und lebensphilosophischen Analysen ab und wie verhalten sich diese zueinander? WelcheKonsequenzen hat die Verschiebung von der Soziologie zur Lebensphilosophie für denBegriff des Menschen? Verschwindet der Mensch im Leben oder gewinnt der Begriff gerade unter dieser Perspektive an Prägnanz? In den Antworten auf diese Fragen soll die Theseverfolgt werden, dass sich Simmels Kulturphilosophie dadurch auszeichnet, die Eigenartdes Menschseins an dessen Entzweiungen und deren unaufhebbarer Konflikthaftigkeitfestzumachen. Aus der Erfahrung der Moderne entwickelt Simmel einen dialektischenBegriff des Menschen, dessen Widersprüche jedoch nicht in einer abschließenden Synthese versöhnt, sondern als Pole des krisenhaften Prozesses der Kultur festgehalten werden. Die „Weltstellung des Menschen“ (Simmel 1999, S. 212) zwischen unaufhebbarenGegensätzen wie Natur und Geist oder Individualität und Kollektivität macht dessenLeben als gesellschaftliches Wesen aus – dieser Schluss soll aus Simmels kulturphilosophischen Überlegungen gezogen und anhand von diesen ausgedeutet werden. Der Vortraggliedert sich in drei Teile: Erstens wird die gegenwärtige lebenswissenschaftliche Konstellation und die problematische Stellung des Begriffs Mensch in dieser skizziert. Zweitenswird Simmels dialektischer Begriff des Menschen anhand einer Auseinandersetzung mitseiner Soziologie und seiner Lebensphilosophie entwickelt. Drittens soll Simmels Interpretation der „Weltstellung des Menschen“ (Simmel 1999, S. 212) auf die gegenwärtigeSituation bezogen und ihre Aktualität sowie systematische Relevanz dargestellt werden.