Ähnlich wie in der gegenwärtigen analytischen Philosophie wurden auch in der scholastischen Philosophie zahlreiche hypothetische Szenarien diskutiert, die nur vorgestellt und nicht empirisch beobachtet werden können. Es handelte sich dabei um reine Gedankenexperimente. Doch welche Funktion hatten sie? In welchen Kontexten wurden sie erörtert? Welcher argumentative Wert wurde ihnen zugeschrieben? Und wie verhielten sie sich zu empirischen Analysen, aber auch zu rein begrifflichen Analysen? Diesen Fragen geht der Vortrag nach, indem er sich auf drei ausgewählte Beispiele konzentriert: • Thomas von Aquins Beispiel der Menschenfresser, die am Jüngsten Tag auferstehen (Kontext der Debatte über personale Identität), • Johannes Duns Scotus’ Beispiel des als Wolf verkleideten Schafes, das Furcht auslöst (Kontext der Emotionsdebatte), • Wilhelm von Ockhams Beispiel des allmächtigen Gottes, der in den Erkenntnisprozess eingreift (Kontext der Erkenntnisdebatte). Es soll gezeigt werden, dass Gedankenexperimente in allen diesen Kontexten eine wichtige theoretische (und nicht bloß illustrierende) Funktion hatten: Theorien sollten mit Verweis auf fiktive Szenarien ausdifferenziert und verteidigt oder widerlegt werden. Gleichzeitig sollte getestet werden, wie Theorien mit „Grenzfällen“ umgehen können und wie sich diese Fälle auch ohne Rückgriff auf empirische Beobachtung erklären lassen.