August Ruhs
Gier des Mundes-Gier des Auges
Der über das orale Triebdispositiv laufende psychische Metabolisierungsprozess in seiner Wirkung auf die Bildung von Ich- und Objekt-Repräsentationen gehört zu den ins Archaische hineinreichenden Grundlagen unbewusster Identifizierungsvorgänge. In dieser Hinsicht hat Freud von oral determinierten Inkorporationen als primäre Identifizierungen mit dem ganzen Objekt gesprochen und versucht, im Mythos des von den Söhnen verschlungenen Vaters der Urhorde die transgenerationale Weitergabe der Lebenskraft und der unsterblichen Libido allegorisch zu fassen. Ontogenetisch sind Inkorporationsphänomene von Bedeutung, die ihre Wurzeln in Erfahrungen und Phantasmen rund um die Ereignisse von Zeugung, Schwangerschaft und Geburt (letzteres vor allem verbunden mit dem mütterlichen Phantasma einer Reinkorporation des Neugeborenen) haben. Soweit sie an der Konstituierung einer Imago der Mutter(brust) und der frühesten Körperbilder beteiligt sind, sind sie auf zwei Empfindungs- bzw. Triebebenen wirksam: einerseits im Akt des Saugens als orale Verschmelzung im Sinne eines aktiven und passiven „Kannibalismus“, welcher der erst in der Entwöhnung sich entwickelnden Oralerotik vorausgeht und andererseits als Phänomen der Skopophilie und deren Einverleibungswirkung, was dem Auge weit über das Sehen hinausreichende Funktionen verleiht. Es war Otto Fenichel, der 1935 in seiner Arbeit „Schautrieb und Identifizierung“ mit Nachdruck auf diese Parallelität von oralen und schaulustbestimmten Triebmodalitäten hinwies, so dass ihnen gemeinsam eine grundlegende Bedeutung für die Subjektgenese und für die Entwicklung einer primären Identität zugesprochen werden konnte.
Triebkräften unterworfen sind Mund und Auge also gewalttätige und gefräßige Organe. Als solche, aber auch sublimiert und auf idealisierte Objekte bezogen stellen Augen-Mund- Verbindungen hingegen einen nicht unwichtigen Bestandteil des Kultur- und Kunstlebens dar.
Einerseits als triebhuldigende Inszenierungen von Fress- und Saufakten, andererseits als speisenbezogene ‚Augenweiden‘, angefangen von der Opulenz entsprechender Stillleben bis hin zu Eat-Art und Foodstyling. Ironische Betrachtungen zu philosophischen und psychoanalytischen Fragen von Essen und Verdauen sollen anhand einer ebenfalls ironischen Fotoserie des Künstlers Erwin Wurm den Vortrag beschließen.
Bilderserie von Erwin Wurm (externe Links):
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Eine überarbeitete Fassung dieses Vortrags findet sich in Elisabeth Skale, Sabine Schlüter, Ulrike Kadi (Hg.): Lust. Verschlingen. Alles Sigmund-Freud-Vorlesungen 2015. Wien: Mandelbaumverlag 2016.
Die Sigmund Freud Vorlesungen sind eine Veranstaltung der Wiener Psychoanalytischen Akademie.