Vortrag am 10.Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie, Innsbruck 2015.http://www.uibk.ac.at/ipoint/blog/1326563.html
Der Vortrag verfolgt das Ziel, die sozialphilosophische Facette der KulturphilosophieErnst Cassirers zu beleuchten und die Frage nach ihrer historischen und systematischenRelevanz anzusprechen. Da eine solche Lektüre auch angesichts der bisherigen Rezeptionkeine Selbstverständlichkeit ist, wird grundsätzlich angestrebt, eine werkimmanente undentwicklungsgeschichtliche Skizze der Sozialphilosophie Cassirers vorzulegen und sie imHinblick auf zwei Grundaspekte zur Debatte zu stellen. Der erste betrifft seine nochim Sinne der Marburger Schule transzendentalmethodische Bestimmung des Verhältnisses zwischen „Gesellschaft“ und „Gemeinschaft“ als gegensätzliche Formen der sozialenBegrifflichkeit. In dieser frühen Entwicklungsphase, die das Leibniz’ System 1902 und Weltkriegsbeiträge wie Freiheit und Form, Kants Leben und Lehre und Zum Begriff der Nation: Eine Erwiderung auf Bruno Bauch umspannt, wird die Kulturphilosophie Cassirerszur Sozialphilosophie insofern, als sie auf die Feststellung der Möglichkeitsbedingungender sozialen Erfahrung fokussiert, um die methodisch unangemessenen Voraussetzungeneiner naturalistischen Begründung des Sozialen zu entlarven und sie durch eine kulturbegriffliche Rechtfertigung zu ersetzen. Der zweite Grundaspekt betrifft die Bestimmungder sozialen Begrifflichkeit unter dem Stichwort „Gemeinschaftsgefühl“, die erst durchdie kulturphilosophische Problematisierung des Mythos der frühen 20er Jahre in Studien wie Sprache und Mythos oder dem zweiten Band der Philosophie der symbolischenFormen erfolgt, in denen die Gesellschaft als eine rein durch mythisch-religiöse Kategorien bedingte kulturelle Struktur verstanden wird. Daraus ergeben sich zwei systematischparallele, wenn auch chronologisch aufeinander folgende Motive, die diese zweite Entwicklungsphase der Sozialphilosophie Cassirers charakterisieren. Denn in Beiträgen vomAnfang der 30er Jahre, wie der Festrede Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der Deutschen Geistesgeschichte oder den Abhandlungen zum Problem Rousseauund zur Philosophie der Aufklärung, wird die gesellschaftliche Lebensform nach „unten“und nach „oben“ dadurch legitimiert, dass die Forderung sowohl nach einem emotionalen gemeinschaftlichen Grundkonsens, als auch nach einer stetig aktiven Bezugnahmeauf die Werte einer sittlichen Zweckgemeinschaft geltend gemacht wird. In eine andereRichtung geht jedoch die bekannte Auseinandersetzung der 40er Jahre mit dem politischen Mythos als Kritik an einem totalitären sozialen Kollektiv, mit der sich Cassirer inThe Myth of the State und einer Vielfalt von unveröffentlichten und veröffentlichten zeitgenössischen Arbeiten beschäftigt. War die Krise der Weimarer Gesellschaft aufgrund desMangels am republikanischen Gemeinschaftsgefühl ausgebrochen, so stellt der totalitäreStaat dagegen das Problem einer durchaus emotional konstituierten Volksgemeinschaft,die den ethischen Bezug auf die Wertgemeinschaft aus den Augen verloren hat. Aber trotzseiner pointierten Kritik an der mythisch-politischen Vernunft geht Cassirer auch in seiner späten Sozialphilosophie immer noch davon aus, dass gewisse „positive“ Emotionen,insbesondere der Edelmut als wertbezogene ethische Form des sozialen Mitgefühls, einegrundlegende Rolle bei der demokratischen Gestaltung einer gesellschaftlichen Ordnungspielen müssen.