Die Säulen des Herakles markieren in der Welterfahrung des Mittelalters Grenzen. Der Dichter und Philosoph Dante Alighieri hat im 26. Gesang des Inferno das wagemutige ‚plus ultra‘ des Odysseus dargestellt. Im "tollen Flug" mißachtet Odysseus die Grenzmarken, gerät in Sichtweite des Läuterungsberges auf der südlichen Erdhalbkugel in einen "gerechten" Sturm und geht unter. Die Grenzen, welche die Säulen des Herakles markieren, sind Grenzen des Wissens. Wer sie mißachtet, ist bewegt von lasterhafter curiositas. Die Verfehlung des Odysseus aber ereignet sich in Dantes plastischer Anschauungswelt nicht zufällig in der Symbolwelt des Meeres. Eine zweite Grenze menschlichen Wissens ist in der Commedia auf dem Gipfel des Läuterungsberges erreicht. Hier müssen sich die Wege Dantes und Vergils, seines heidnischen Führers durch die beiden ersten Jenseitsreiche, trennen. Dessen weltliches Wissen reicht über diese Grenze hinweg nicht mehr. Damit stellt sich indes ein grundsätzliches Gerechtigkeitsproblem, war es doch Vergils einzige "Verfehlung", ungetauft, da zu früh verstorben zu sein. Ein erschreckender Kontingenzverdacht macht sich inmitten des Danteschen "poems of justice" (Gilbert) geltend. Sind die aufkommenden Zweifel des Wanderers wirklich nur der Schwäche des menschlichen Intellekts pro statu isto geschuldet, wie es Beatrice einmal suggeriert: "Darum verliert sich ganz in der immerwährenden/Gerechtigkeit eure Sicht, die eurer Welt zugeteilt ist,/wie das Auge im Meer […]? Dantes Commedia ist eine Ordnungsvision für das große Meer des Seins, in der jedoch die Zweifel des Wanderers an der Gerechtigkeit der Ordnung eher durch paradiesische Freuden zum Verstummen als durch Vernunftargumente gelöst werden. Wie geht eine Gerechtigkeitsvision mit den Grenzen des Wissens um und welche Bewandtnis hat die Symbolsprache des Meeres als entgrenzter Raum dabei?
Diskussion zum Vortrag.