Anspruch und Gerechtigkeit

Die Philosophische Audiothek
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Anspruch und Gerechtigkeit
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Gerechtigkeit wartet nicht. Es gibt je Ansprüche, akutes Leiden, helle Empörung, die verhindern, dass wir Strukturen, Normen und Regeln bloß auf Fälle anwenden; zugleich gibt es aus denselben Gründen nicht immer Aufschub, der es erlaubt, unser Handeln einer universellen Prüfung zu unterziehen – was uns von Verantwortlichkeit nicht entbindet. Wir müssen, wie Derrida sagen würde, handeln und verantworten, was gerecht gewesen sein wird. Bei Aristoteles finden wir die Unterscheidung von Gerechtigkeit der Regeln und Institutionen und Gerechtigkeit als vollkommene Tugend, worin sich ein Überschlag zwischen Ethischem und Politischem zeigt. Als vollkommene Tugend bildet die Gerechtigkeit im Verbund mit dem „Billigen“ einen Überschuss der Anwendung vor dem Horizont von Geregeltem. Auch in deontologischen Ansätzen finden sich Überlegungen zu Anwendungsbedingungen in Rawls´ Überlegungsgleichgewichts oder in Habermas´ Zeit- und Wissensindex, der sogar die Historizität der Normen selbst anspricht. Ein jeweiliges Gerechtigkeitsethos erweist sich als historisch-kontingent und mithin begrenzt. Gleichzeitig aber sind diesem Ethos Überschüsse inhärent – siehe Aristoteles´ Begriff des Billigen bzw. Derridas „Juridi-Politisierung“, die meint, dass Regelungen nie alle Dimensionen beherrschen, die in den Begriff der Gerechtigkeit fallen; eine diametrale Gegenüberstellung von Norm und persönlicher Verantwortung bleibt ausgeschlossen. Umgekehrt ist die individuelle Verantwortung auch mittelbar auf das bezogen, was Young strukturelle Ungerechtigkeit (Un-/Gerechtigkeit hat also Adressaten, aber nicht zwingend Adressanten) nennt; eine ungerechte Norm entbindet nicht von Verantwortung. Es bleibt der jeweilige Anspruch Anlass und Kriterium des Ver-Antwortens, das über etablierte Normen hinausgehen, selbige in Frage stellen und gegebenenfalls modifizieren kann, aber nicht unendlich und nicht beliebig. Es lauern sonst Ungerechtigkeit oder die Hybris einer gnadenlosen Gerechtigkeit.

Diskussion zum Vortrag.